"Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar" (Ingeborg Bachmann, 1959)
Meine Liebe, mein Lieber
Heute muss ich meine Gedanken über den brutalen Selbstmord einer Freundin hier mit Euch teilen.
Der Entscheid von Esther, vor exakt zwei Wochen aus dem Leben zu scheiden — sie hat sich am frühen Morgen in Thörishaus bei Bern von einer Brücke unter den Zug geworfen — hat uns alle überrascht und schockiert.
Schon vor der gestrigen Trauerfeier habe ich mit einigen FreundInnen von Esther gesprochen: Alle bestätigen, dass sie eine unsichtbare Wand um sich herum aufgebaut hatte, in freundlicher, aber bestimmter Zurückweisung praktisch aller Versuche, sie aus sich heraus zu locken. Wir hatten gelernt, damit zu leben, und das war vielleicht falsch. Sie zu bedrängen wäre allerdings ja auch nicht gerade ein Zeichen von Respekt gewesen...
Ich weiss, dass sie mindestens seit letztem Sommer an ziemlich starken Hüftbeschwerden litt. Ob sonst noch eine Krankheit dazu gekommen ist? Aber starke Schmerzen können einen Menschen zur Verzweiflung treiben, und es mag sein, dass sie auf Schmerzmedikation nicht gut ansprach. Schmerzen rauben einem den Schlaf, Schlaflosigkeit ist eine Tortur: Da kann frau ans Ende der Kräfte kommen.
Anfang Jahr hätten wir das 5-jährige Jubiläum unserer Lesegruppe mit ihr feiern wollen, doch hat sie sich telefonisch wegen Grippe entschuldigt — sie klang wirklich krank, als ich mit ihr sprach. Im Februar entschuldigte sie sich wieder. Doch noch am 27.2., also einen Tag vor ihrem Sprung, sprach sie mit einer unserer gemeinsamen Freundinnen und sagte, sie freue sich auf “nächsten Montag”, dem Tag unseres nächsten Treffens (3.3.08). Auch einen langjährigen Freund hatte sie völlig im Dunkeln gelassen über ihre düstere Absicht -- er war gestern völlig aufgelöst, und meine Gedanken sind jetzt vor allem auch bei ihm.
Als sie aber am vorigen Montag nicht erschien, sich nicht abgemeldet hatte und am Dienstag auch mein Anruf ins Leere ging, hatte ich ein schlechtes Gefühl. Sogleich stellte ich die Notizen vom Vorabend zusammen und schickte sie in die Runde. Darauf hat die Präsidentin der Swiss-British Society reagiert, die immer eine Kopie kriegt, und uns die Mitteilung von Esthers Tod weiter geleitet.
Esther hatte alles minutiös vorbereitet: Todesanzeige (die vom 5.3.) selber geschrieben, Lebenslauf, Instruktionen für Pfarrerin, Trauerfeier und Leichenmahl -- alles! Soviel weiss ich aus absolut zuverlässiger Quelle.
Esthers Selbstmord geht mir auch nah, weil ich in Thörishaus noch Verwandte habe und ein paar andere liebe Bekannte. Meine Mutter ist dort aufgewachsen, und ich kenne den Ort immer noch ganz gut. Meine allererste Zugsreise alleine ging von Bern nach Thörishaus, da war ich etwa 6 oder 7. Wie oft habe ich als Kind oben am Bahnbort gesessen, hinter mir Grosis Himbeerstauden, wo die Früchte grün und hart oder gross und dunkelrosa und weich an den dornigen Zweigen hingen, und habe gewartet, bis wieder ein Zug vorbei donnerte.
In Münsingen geht oft jemand unter den Zug, das ist eine berüchtigte Strecke, weil ab und zu Menschen aus der dortigen Psychiatrischen Klinik keinen anderen Weg aus dem Leben finden. Aber in Thörishaus ...?
(Esther am 31.10.2005, Foto MPJ) Heute geht es mir besser, doch beschäftigt mich dieser Tod sehr. Vor allem kriege ich die beiden Seiten nicht in Einklang — hier die feinfühlige, überaus grosszügige, liebenswürdige Esther, der nichts zuviel war für andere, die allerdings auch nicht besonders gut zu sich selber schaute — dort dieser brutale Gewaltakt am Ende ihres Lebens, der zeugt von absoluter Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Lokführer, der Polizei, den Menschen, die die Überreste ... -- das begreife ich wirklich nicht. Ausser, wenn ich mir vorstelle, dass diese hochintelligente, ihrer Selbst zutiefst unsichere Frau im Innersten eine riesige Wut auf das Leben aufgestaut hatte...
Was uns bleibt ist, diesen Entscheid zu akzeptieren und unser vielleicht ideales Bild von Esther entsprechend zu retuschieren.
Der gestrige Nachmittag passte gut: Es stürmte, als wir an der Nischenmauer im Freien standen. Die Schirme knatterten in Wind und Regen, so dass man die Stimme der Pfarrerin trotz Mikrofon kaum hörte. Richtiges Orkney-Wetter -- es hätte der Orkney-Liebenden, der Schottland-Liebenden gefallen!
Gegen Schluss der langen Trauerfeier mit Predigt in der Kirche hellte es auf; sogar die Sonne schien ein paar Augenblicke lang. Nach dem Leichenmahl war die Brücke trocken, über die wir zum kleinen Bahnhof zurück gingen, und die Sonne schien schräg durch die Kumulus-Wolken.

Es war ein grosses Privileg, diese Frau zu kennen, soweit frau so eine Frau kennen kann:
Esther war die Liebenswürdigkeit in Person, und von unfassbarer Grosszügigkeit, dazu zuverlässig, äusserst belesen, klug, intelligent, einfühlsam, an allem interessiert. Sie hat mir ein paar wunderbare Bücher und Fotos geschenkt, wie sie auch viele andere um sich herum immer wieder grosszügig beschenkt hat.
Erst gestern beim Anhören ihres Lebenslaufes wurde mir klar, mit wem wir es die ganze Zeit zu tun gehabt haben: mit einer Hochintellektuellen, die in Basel Vorlesungen und Seminare über Religion, deutsche und englische Literatur und Geschichte besucht hatte, sodann mit einer Doktorarbeit über Elisabethanische englische Literatur abschloss, die sie unter anderem während ihres Studien- und Assistenzlehrerjahres in Aberdeen, Schottland, schrieb. Da lernte sie auch ihren vielgeliebten Schottischen Dichter, George Mackay Brown, kennen, dessen Werke sie praktisch vollständig und ohne Entgelt ins Deutsche übersetzt hat. Sie sind beim Waldgut-Verlag in Frauenfeld erschienen (http://www.waldgut.ch/content/e35/e682/e563).
Vor noch nicht sehr langer Zeit haben wir uns unterhalten über ihre deutsche Übersetzung eines Gedichts von Roselle Angwin, meiner schriftstellerischen Mentorin aus Devon. Esther hatte Roselle im November 2007 kennen gelernt, als die englische Dichterin in Bern ein paar Workshops und Vorträge hielt (http://www.fire-in-the-head.co.uk).
Typisch Esther: Sie war mit ihrer Arbeit nicht zufrieden, dabei ist es ein wunderschönes Gedicht geworden. Hier ist es:
Ruderschlag
(für George Mackay Brown)
Auf denn: Noch einen auf ihn und auf den Weg –
und den Kiel, und sein scheues
salzgefurchtes und dennoch
jungenhaftes Gesicht
und auf sein Fenster dort,
das ihm die ganze Welt eröffnete.
Einen auf ihn, den Dichter von Stein
und Ufer, von dem was zerschellt ist
oder versunken; und auf das Mädchen
in ihm drinnen,
wie es draussen so nie lebte.
Einen auf den Schuh, den er der See
zurückgab zum Tanzen,
und auf sein ruhiges, stetes
Lobsingen.
Einen auf sein Leben voller
Sonntage, an denen
die andern in der Kirche
"aus Furcht vor den Ältesten auf dem Arsch hockten",
während sich seine Loblieder erschufen
auf einen grimmigeren Gott,
sich erschufen aus Sand und Fels und Sturm
und der unerbittlichen Nähe
der Toten.
Roselle Angwin, 2007
(Übersetzung: Esther Garke, 2007)