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Ich freue mich auch auf Rückmeldungen betreffend Passagen, die ich nicht oder nicht richtig gehört habe.
Transkript Lesung Irmtraud Morgner, Uni Bern, 19.1.1988
Einführung von Prof. Peter Rusterholz
Rusterholz:
Ich freue mich, dass Sie sich ermannt oder erweibt haben, wie Frau Morgner auch schon gesagt hat. Für manchen dürfte Frau Morgner - auch für manche - keine Unbekannte sein. Einige von Ihnen, das weiss ich mit Sicherheit, haben sie in Solothurn schon gesehen; 1984 haben Sie sie gehört und seither das Bedürfnis, sie wieder zu sehen und zu hören. Es war dies offensichtlich ein literarisches Ereignis im besten Sinne des Wortes, eine Begegnung zwischen Autorin, Text, Hörerinnen und Hörern, die sich auf Alle betreffende, auch gute Lebens- und Überlebensfragen bezogen haben. Diese Begegnung ist dokumentiert in einem Bändchen[1], das Irmtraud Morgner mit Entsetzen von sich weist, weil einige Fehler des Gespräches darin überliefert sind. Die Texte, die von ihr selber sind, und die Texte, die von Frau Pedretti kritisch gelesen wurden, können aber gleichwohl zur Lektüre empfohlen werden. Jedenfalls haben Sie Leseproben. Wenn Sie die Romane lesen, ist das ganz sicher noch besser, die Hexenromane. -
Sie dürfen ja, wie Sie wissen, Frau Morgner ohne Scheu als Hexe bezeichnen [Gelächter], als Hexe, die Hexenromane schreibt [Gelächter]. Der Name des weiblichen Ketzers ist Hexe, und [Gelächter] der Hexer ist letzten Endes ein Mensch, der das Mögliche von Übermorgen bedenkt. Und insofern wäre die Hexe also positiv gerettet. [Gelächter] Damit sind sind Hexen und Ketzer die lebens- ja die überlebensnotwendigsten Leute. -
Frau Morgners Schreiben entwickelt solche Energien des Lebens und Überlebens, und das gehört zum Faszinierendsten der Erfahrungen beim Lesen ihrer Texte: der Humor. Dem Hexenroman Amanda[2] ist ja als Motto beigegeben der Satz E.T.A. Hoffmanns, "Das Lachen ist nur der Schmerzenslaut der Sehnsucht nach der Heimat, die im Innern sich regt." Diese Art und Weise der Verbindung von Lachen und Schmerz, von Scherz und Ernst ist das, was mich an Frau Morgners Texten immer wieder fasziniert hat. Und ich meine, es sei auch der Grund, weshalb wir bei Ihnen weder süssen noch sauren Kitsch finden, weder heile Welt noch klischierte Beschwörungen des Weltuntergangs, des Abgrunds, des Entsetzens - sei dies nun der Abgrund des gegenwärtigen Weltzustandes, oder sei dies ein alltäglicher Abgrund aus den Greuelszenen der patriarchalischen Kleinfamilie [Gelächter]. Ein Zweites, das mich fasziniert, die Verbindung der engsten mit den weitesten Horizonten, die Verbindung von Alltag und Weltgeschichte, von Mittelalter und Gegenwart. Beide werden mit einem Humor verbunden, der von den täglichen Kartoffeln bis zu den Sternen reicht.
Damit ist es aber höchste Zeit, dass Sie Frau Morgner hören. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. [Kein Applaus.]
Irmtraud Morgner:
Also, ich stehe zum ersten Mal, ich sitze nicht, das heisst, hier wird verlangt, dass ich stehe. Bloss gut, dass ich einen Text mithabe, der - [Einwurf Rusterholz: Wir können das [Lesepult] auch wegräumen, wenn Sie lieber so sitzen.]
Also, das ist nun mal so passiert. Mal was Neues. Mal sehen, ob ich das so lange aushalte. - Ja. - Also:
Liebe Berner Universität, natürlich.
Ich habe gehört, dass, als ich neulich irgendwann mal in Solothurn gelesen habe, da hat es einige gegeben, die da, von Ihnen, die da dort waren, und ich wäre ja furchtbar hier in die Fettnäpfe getreten, wenn ich den gleichen Text hier jetzt noch mal - so dass ich also - SBB macht es einfach möglich, da hin und her zu fahren, also ich habe einen Nagelneuen mit, aber bitte seien Sie so lieb und fahren Sie nicht nach Zürich - [Gelächter] - denn da muss ich auch noch lesen.
Es gibt in einem Buch nicht so sehr viele Texte, eigentlich ganz wenige, die man vorlesen kann - eigentlich eignet sich überhaupt ein Buch nicht zum Vorlesen, es hat sich so eingebürgert, und es sind nicht die besten Sitten, aber das ist einfach so, dem kann man sich nicht entziehen, den Sitten, das wissen Sie ja. Und - also - ich erlaube mir, wie gesagt, in Zürich - dies ist ein nagelneuer Text - aber in Zürich nochmals den gleichen zu lesen. Und denke mir, der Thomas Mann hat lebenslänglich bloss Mario und der Zauberer gelesen [Gelächter]. Natürlich bin ich nicht Thomas Mann, aber ich erlaube mir also, das so zu machen. Ja und das - mit dem Inhalt hat es vielleicht eben, dass ich mal stehe. Wenn mir die Beine wehtun, dann setz ich mich.
Ich lese also aus einem Buch, welches heisst:
Die cherubinischen Wandersfrauen. Ein Apokryphosalmanroman.
Die Sache mit dem dritten Band - wer kann denn in diesen undurchsichtigen Zeiten, wo kein Mensch weiss, wo, wie, oder was, und ob wir überhaupt, Punkte machen. Und der dritte Band wäre ja, dass ich einen Punkt machen müsste, und das ist schlechterdings nicht zu machen. Ich muss mal in der Zwischenzeit etwas Apokryphes schreiben.
Und jetzt muss ich noch was sagen, also die natürlich, die das also wissen, denen möchte ich nicht auf die Füsse treten, aber es könnte ja auch jemand sein, die sagen, ist ja unerhört, was sie da voraussetzt, dass man etwas aus der griechischen Mythologie so wissen muss, und also, Gebildete natürlich ganz weghören und mir das verzeihen: Es gibt da eine Anspielung auf Hero und Leander. Hero ist in der griechischen Sage eine Priesterin der Aphrodite, die befindet sich auf dem europäischen Ufer des Hellespont. Ihr Geliebter, Leander, gegenüber auf dem anderen Ufer, schwamm nächtlich zu Hero durchs Meer und ertrank, als die von Hero ihm als Wegweiser aufgestellte Lampe im Sturm erlosch. Hero stürzte sich darauf vom Tor. Also, das nur in Klammern, und für die, die es wissen, natürlich 'ne Zumutung - verzeihen Sie mir.
Ich sage von dem Buch nur den ersten Satz, und dann geht der Text los. Die Einleitung, damit Sie ungefähr - also - mit den cherubinischen Wandersfrauen - bin ich laut genug? - [nein] aha, also schreien.
Das Buch Die cherubinischen Wandersfrauen wird wahrscheinlich so anheben, wahrscheinlich:
"Als Hero fünfzig Jahre alt war, ging sie nach Paris und schnitt sich einen Mann aus den Rippen. [Gelächter] Die Massenmedien stürzten sich auf das Ereignis. Dem kapitalistischen Lager Verpflichtete schlachteten es aus und fertig. Dem sozialistischen Lager Verpflichtete pochten auf die Klärung des Sachverhalts. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, haben aber inzwischen eindeutig ergeben, dass das Ergebnis veraltet ist, der Deponie des Vergessens überantwortet."
Und jetzt der Text, denk ich, also für eine Universität, der Text heisst:
Das Heroische Testament. Auszüge aus apokryphen Promotionsunterlagen.
Dokument 1:
Antrag auf Eröffnung eines Promotionsverfahrens.
Da Unterhaltung eine Wissenschaft für sich ist, wenn sie die Massen ergreifen soll in Richtung - und jegliche Richtung solcherart als Ideologie resp. Philosophie beschrieben steht - beantrage ich hiermit bei der Generaldirektion für Unterhaltungskunst ein Promotionsverfahren zur Erlangung des akademischen Grades "Doktor eines Wissenschaftszweiges (Promotion A: Dr. phil.)". Denn natürlich ist gelebte Philosophie eine Magd der Ideologie. Aber es macht nach Kant, Immanuel, einen Unterschied, ob diese ihrer gnädigen Frau die Fackel voranträgt oder die Schleppe nach.
Als Fackelträgerin zunächst bei VEB Zentralzirkus und dann bei der Konzert- und Gastspieldirektion, hatte ich Gelegenheit, mehr als zwei Jahrzehnte lang auf meinem Wissenschaftsgebiet tätig zu sein. Deshalb würde meine Arbeit gewiss auch den Qualifikationsforderungen genügen, die an eine Promotion B zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der WissenschaftEN (vormals Habilitation) zu stellen wären. Aber eine Promotion A erscheint mir ausreichend, zweckdienlich. Meine Überzeugung: Ein höherer Zweck heiligt selbst wissenschaftliche Mittel.
Deshalb bitte ich um rasche Einleitung beziehungsweise Abwicklung der [Zulassung?].
Mit sozialistischem Gruss
Herta Kowaltschik (Hero)
Anlage:
• 4 Exemplare der Arbeit (Fotoform)
• 6 Exemplare Thesen
• Befürwortung
• Lebenslauf
• Übersicht der von der Kandidatin bisher erzielten philosophischen Ergebnisse
• Gesellschaftliche Beurteilungen
• Polizeiliches Führungszeugnis
• Nachweis über die erforderlichen marxistisch-leninistischen Kenntnisse
• Belege über die Fremdsprachenkenntnisse
• Quittungen über die entrichteten Promotionsgebühren in Höhe von 200 Mark
• Erklärung, dass die Arbeit selbständig verfasst wurde und andere als die angegebenen Hilfsmittel nicht benutzt wurden.
Dokument 2:
Der Mann aus der Rippe. Inauguraldissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der philosophischen Wissenschaften (Dr. phil.),
vorgelegt einem ausserordentlichen Rat aus Befugten,
von Herta Kowaltschik (Hero),
geboren 21.6.33, in [Schoophaue?], Sachsen.
Berlin, am 26.4.1987.
Fotografie (Akt), Format DIN A4, Schwarz-weiss-Vergrösserung, aufgenommen mit Kleinbildkamera "Praktina", 1/100 Sek., Blende 8, O-Wo-Film, 27 DIN.
Dass der unter §4, Abs. 6 der Promotionsordnung festgelegten Bedingung, die Arbeit deutschsprachig vorzustellen, genügt wurde, kann während der Verteidigung durch Befragung der Arbeit, bzw. Konversation mit ihr, überprüft werden.
Dokument 3:
Thesen.
1.
Die Arbeit verkörpert eine Philosophie, die ich "Philosophie der Tat" zu nennen mich entschlossen habe. Diese Tatphilosophie, aber unter Verwendung meines Namens auch als "heroische Philosophie" bekanntgeworden, geht praktisch von marxistischer Philosophie aus, also nicht indem sie Marx' Worte zitiert, sondern indem sie Marx' Worten nachhandelt.
[2. fehlt in Morgners Lesung]
3.
Der Satz, "Die Philosoophen haben die Welt bisher nur interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern", war der Handlungsanstoss von Marx, der neben anderen Anstössen, Anstössigkeiten und einem Ereignis meine Arbeit vorangetrieben hat, sowie heraus, natürlich nicht planmässig, andernfalls hätte ich vielleicht in der DDR zum Messer gegriffen.
4.
So wären mir viele Scherereien erspart geblieben. [Gelächter] Dieses Habilitationsverfahren, zum Beispiel, he he. Das auslösende Ereignis für meine Handlung mit dem Ergebnis in Person ereilte mich aber in Paris, zufällig. Das heisst, es hätte mich auch in Reichenbach im Vogtland ereilen können, oder andernorts auf Erden. Nicht auf dem Mond, weshalb mich ein gewisser Professor Z. mich sicher gern dahin schiessen würde.
5.
Der Ort ist so zufällig wie die Tat. Alle wirklichen Erfindungen fallen zu. Das hat selbst die Wissenschaftswissenschaft inzwischen erkannt, aber natürlich nicht begriffen, weshalb die Grundlagenforschung ihr Lieblingsrätsel geblieben ist, das sie knacken will. Eine andere Denkrichtung, der sicher Professor Z. anhängt, möchte das Rätsel Mensch knacken, auf dass die Menschenwiesen, die die Erde bedecken, nicht draufloswachsen, sondern zu englischem Rasen gebildet werden können, mit Hilfe von Rasenmähern, die die Abnormität alles Lebendigen zu schönster Regelmässigkeit zuzuschneiden in der Lage sind, dergestalt, dass die Ebenmasse eines Kunstfaserteppichs zwar nicht erreicht, aber als erreichbares Ideal wenigstens ahnbar sind. Idealnorm: der genormte Mann.
[6. fehlt]
7.
Aber Hölderlin sagt nicht, „Leben heisst, eine Norm verteidigen“. Hölderlin sagt, „Leben heisst, eine Form verteidigen“.
Die menschliche Form ist prinzipiell in zwei Formen entworfen.
8.
Kosmischer Struktur gemäss, das wusste schon Lao Tse, der etwa vor 2500 Jahren im südchinesischen Staat Shu gelebt hat, umbrandet von Menschenkriegen gegen Mensch und Natur, und diese Kriege, Anzeichen der Verluderung des Raubtiers Mensch. Er hat den Instinkt verloren, der jedes Tier vor der Selbstausrottung seiner Art schützt und vor der Missachtung seiner Form. Und indem der Mensch aus seiner Natur fiel, fiel er aus aller Natur und begann Geschichten zu machen. Die Verluderung der Form als eine Voraussetzung fürs Geschichtemachen nennt Friedrich Engels "Weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts".
[9 fehlt]
10.
Das Phänomen war vor 2500 Jahren längst deutlich. Nur die Ausrottungstechniken wurden effektiver seitdem, und heute stehen absolut perfekte zur Verfügung. Lao Tse grübelte sich zurück in die Zeit, die Historiker Vorgeschichte schimpfen, auf der Suche nach den Anfängen der Formzerstörung, um vorausdenken zu können die Regeneration der Menschheit.
11.
Heinrich von Kleist grübelte über den Weg: "Das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns. Wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist."
12.
Ein von der UNO abgesegneter Schritt auf dieser Reise: das Jahr der Frau und eine Dekade. Schluss.
13.
Gegen den Zynismus dieses Schlusses setze ich eine Tatsache, die ich natürlich habe selber schaffen müssen.
14.
Zynismus ist eine Variante der Selbstzerstörung. Wer so resigniert, kann fortvegetieren. Wer nicht aufgibt, greift zum Messer. Sich wehren heisst immer auch, sich was herausnehmen.
15.
Die Frau aus der Rippe: Garant unserer Gegenwart. Der Mann aus der Rippe: eine Hoffnung auf Zukunft.
16.
Der Mann ist tot, es lebe der Mann.
17.
Frisch geschnitten, ganz gewonnen. [Gelächter]
18.
Der neue Mann - wie alt das klingt. Das Testament aus der Rippe, Sphärenklänge.
19.
Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine kluge Frau. Hinter jeder erfolgreichen Frau steht - nichts, oder weniger. Hinter einer klugen Frau steht ein schöner Taugenichts (vgl. Lao Tse, Tao Te Tschi: "Wer nicht arbeitet, macht auch keine Unordnung.")
20.
Das Messer im Haus erspart den Umweg Erziehung. [Gelächter]
21.
Wer den Pfennig ehrt, ist des Taugenichts wert.
22.
Befriedigung der ständig wachsenden Konsumbedürfnisse der Bevölkerung: Hausgemachter kapitalistischer Sachzwang = Unkultur des Unnützen. Befriedigung der ständig wachsenden Spielbedürfnisse der Bevölkerung: Hauszumachende sozialistische Spiellust = Kultur des Unnützen. Vgl. Walther Ulbricht: "Überholen ohne einzuholen".
23.
Ein Mann, den es nicht gibt, macht noch keinen Sommer, aber Frühling.
24.
Möglicher wirtschaftlicher Nutzen des Dissertationsverfahren: Die Umwandlung eines Mannes, den es nicht gibt, also erst eines Mannes an sich, also ohne Personaldokument, in einen Mann mit Personaldokument, also einen Mann für mich. Denn ich, Hero (Frau aus dem Volk der DDR), habe mir Leander (griechisch heisst das Mann aus dem Volk) schliesslich nicht aus den Rippen geschnitten, um ihn loszuwerden. Leander, auch eine Arbeitskraft. Was gilt hier mehr?
25.
Ceteri censeo: Wer den Cherub hinter sich weiss, bleibt fähig, ihn sich vor Augen zu führen.
Dokument 4:
Akademie der Wissenschaften der DDR, Direktorat Kaderbildung
Betrifft: Promotionsverfahren H. K.
Da weder die Generaldirektion für Unterhaltungskunst noch die Akademie der Künste das Promotionsrecht haben, und sowohl die Humboldt-Universität als auch alle anderen angesprochenen Universitäten des Landes unter Vorschützung diverser Reputationsverpflichtungen den Gehorsam verweigerten, hat eine Direktive des Finanzministers die Akademie der Wissenschaften der DDR mit der Durchführung des Promotionsverfahrens H. K. beauftragt. Selbstverständlich war auch aus keinem Institut der AKW (das heisst bei uns Akademie der Wissenschaften) eine Befürwortung des Verfahrensantrags freiwillig zu erwirken. Alle Institutsdirektoren erklärten sich für unzuständig. Mit Recht, wie uns scheint, weshalb wir schliesslich Herrn Professor Doktor Filz-Hett in die Pflicht nehmen mussten. Sein Ja liegt schriftlich vor. Unsere, d.h. seine, Gutachtervorschläge: Prof. A, Prof. B., Prof. C. Mitglieder der Promotionskommission: Prof. D. , Prof. E. und, als Sachverständiger von der Generaldirektion für Unterhaltungskunst delegiert, der Zauberkünstler Ambrosius. Vorsitzender der Promotionskommission: Prof. Z.
Das Promotionsverfahren H. K. als normal einstufen, würde für Blindheit zeugen und könnte den Vorwurf der Fahrlässigkeit nach sich ziehen. Die zur Wahl stehenden Geheimhaltungsgrade erscheinen jedoch auch unangemessen. Deshalb schlägt Prof. Z. auf unseren Vorschlag hin vor, Dissertation und Dissertationsverfahren und sämtliche bei diesem Vorgang anfallenden Dokumente als apokryph zu erklären.
Dokument 5:
Lebenslauf
Also dass ich sagen kann, Elternhaus, Schule und Hochschule waren ausgezeichnete Universitäten. Was ich da gelernt habe, hat mich bewogen, meine Werke nicht schriftlich zu fassen, wie Sokrates. Der hatte seine aber herumgesprochen, und das war schon zuviel. Weshalb er zum Tode durch den Schierlingsbecher verurteilt wurde. 2000 Jahre später ist Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Diese Lebensenden, sowie die Kritik von Marx an Philosophen, die nur interpretieren, führten zu meinem Entschluss, mich solcher Interpretation zu enthalten.
Meine letzte schriftliche Äusserung, Diplomarbeit über Giordano Brunos Heroische Begeisterung, Heroica Furor.
Nach dem Staatsexamen in die Praxis gegangen und Kinder gemacht. Frühwerke: zwei Mädchen, zwei Knaben, Freinummer.
Hauptwerk: Das Testament. Alle Veröffentlichungen unter Hero. Kein Pseudonym, ein Spitzname, den ich mir an der Universität einfing und mitnahm an die Basis. Eine Zauberkünstlerin kann nicht Herta Kowaltschik heissen.
Dokument 6:
Übersicht über die von der Kandidatin bisher erzielten philosophischen Ergebnisse unter besonderer Berücksichtigung der Entstehung und des volkswirtschaftlichen Nutzens:
Heroische Philosophie ist fassbare Philosophie, anfassbare Philosophie. Der gängige Vorwurf, die Dichter und Denker des Landes hinkten hinter der Realität her, trifft auf mich nicht zu. Heroische Philosophie, ein Wohlgefallen, wäre logisch zu schliessen. Aber diese Welt funktioniert nicht nach den Gesetzen der Logik, sondern dem Oder-Glauben nach. Dieser Oder-Glaube ist eine Fortsetzung des Aberglaubens mit wissenschaftlichen Mitteln. Dem blinden Oder-Glauben setze ich sehendes Spekulieren entgegen. Spekulationsmaterial aus dem Leben gegriffen. Spekulationsorte: nicht fest. Alle Arbeiten, ob im Engagement des VEB Zentralzirkus oder im Konzept der Gastspieldirektion entstanden, wurden auf Tourneen veröffentlicht, im Inland im In- und Ausland, zuletzt nur noch im Ausland. Allen Arbeiten ablesbar sind Einflüsse der niederen Realität und der hohen Philosophie. Wer Augen hat, die sehen, der kann lesen. Die vor meinem Hauptwerk erschienenen Veröffentlichungen lassen ausser anregenden Realitäten auch den Einfluss von Kant erkennen, die drei Fragen seiner drei grossen kritischen Schriften: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Schon Nr. 1, während der Studentenzeit konzipiert, weist zudem sämtliche Merkmale des sogenannten operativen Genres auf, eine Entäusserungsart die, sofern auf der jeweiligen politischen Linie gebracht, in Form von Reportage, Aufklärungsroman oder Gelegenheitsgedicht, bei unseren Zeitungen damals als ideal Belobigung fand, nicht ohne Kontinuität bis auf den heutigen Tag.
Ein Lieblingsdichter, wurde zu meiner Studentenzeit dem Privatleben zugeordnet, das diesbezüglich und auch sonst sauber, etwas durchwachsen, ja sogar ein bisschen fragwürdig ausfallen konnte, alles akzeptabel, wenn die poetische Zuneigung nicht ausgerechnet einem Tabu galt, d.h. einem politischen Tabu, das gerade oder gerade noch aktuell war. Eine Zuneigung zu Franz Kafka, zum Beispiel, war damals natürlich keine Privatsache. Aber sonst ... Ich verachtete die Fachrichtungen der philososphischen Fakultät, die sich mit Kunst beschäftigen, und Geschmacksurteile als objektive Wissenschaften ausgaben. Ich wertete diese Fachrichtungen als Hochstaplerclubs, die der philosophischen Fakultät die Ehre abtrugen, die Ehre der Wahrheit, der echte Wissenschaft verpflichtet ist, gleichbedeutend mit Ordnung auch. Dass es nur eine Wahrheit gab, verstand sich von selbst. Wir Philosophen jedenfalls hatten sie. Und da Philosophie, aus dem Griechischen geerbt, Liebe zur Weisheit bedeutet, hiess philosophieren für mich und meine Mitstudenten folglich, Liebe zu Marx. Wozu sich Charakterköpfe nicht nur öffentlich, sondern öffentlichst bekannten, durch Parteiabzeichen. Mir gefielen Charakterköpfe, und ich lebte mit ihnen das äusserlich turbulente und innerlich geborgen ruhige Leben einer Gerechten. Bis mich eines Tages ein Schlag traf, ein Blitz, eine existentielle Erschütterung, wie sie sich mitunter zwischen zwei Menschen ereignet, und da nennt man sowas präzis "Liebe auf den ersten Blick". Ich wurde aber nicht von einem Menschen derart geschlagen, sondern von einem Buch. Das Ereignis fand in der Deutschen Bücherei zu Leipzig statt, das Buch hiess Tao te Tschi. Sein Autor, Lao Tse, war vom Blitz an mein Lieblingsphilosoph, das heisst, dass ich ihn nicht verstand, im Sinne von Durchschauen. So lieben kann der Mensch nur das Rätselhafte. Ideale Liebe: je mehr Rätsel gelöst werden, desto mehr stellen sich ein. "Kritik der reinen Vernunft": Ein Skandal, den ich an der Universität nur knapp überlebte, ohne Exmatrikulation. Dass die Praxis anders verfuhr, war allgemein bekannt, und ich wollte in die Praxis, mit einer abartigen Liebe zur Weisheit, zwar nicht nur im Kopf, aber dort wurde die Perversion am wenigsten verziehen - stand nicht irgendwo in der Bibel, man solle sich ausreissen, was störe?
Weitere realistische Anregung zu Nummer 1, Erinnerung an drei Frauen:
a) Die Dame ohne Unterleib war für mich keine Redensart, sondern ein Kindheitserlebnis auf dem Jahrmarkt.
b) Meine Mutter pflegt zu sagen, "Solange ich den Kopf nicht unterm Arm trage, fällt Deinem Vater nicht auf, dass ich krank bin."
c) Von Anne Boleyn, der fünften Frau Heinrichs des Achten von England, fand ich die ironische Rede auf dem Schafott überliefert, in der die Frau Heinrich für alle Wohltaten dankt: "Zuerst hat er mich in den Adel erhoben, dann zur Königin und schliesslich zur Märtyrerin." Annes letzte Bemerkung zum Henker, "Es geht sicher schnell, ich habe ja einen dünnen Hals", übernahm ich in Nummer 1, auch das Kostüm der Zeit. Schlusspose, nachgestellt gewissen aus Stein gemeisselten Heiligenfiguren katholischer Kirchen: Kopf vorm Bauch, von eigenen Händen gehalten. Erstveröffentlichung in circensischer Attraktion, [Poppszella?], Thüringen. Titel: "Die Frau ohne Kopf".
Nummer 2 wurde aus praktischer Vernunft praktischer Massenarbeit herausspekuliert, die der VEB Zentralzirkus nicht anders durchzog als andere Betriebe der Arbeiterklasse, der Bauernschaft und der Intelligenz, nämlich in zwei Stufen: erste Stufe: zusammensetzen, zweite Stufe: auseinandersetzen. Ich hielt mich streng an dieses Grundmuster ideologischer Um- beziehungsweise Neuformung; einzig die Idee der Änderung der Abfolge ist mein geistiges Eigentum, und auf diese Idee brachte mich eine Pantomime, genannt "Die Geburt des Harlekin", aufgeführt von einer italienischen Commedia dell'Arte-Truppe im Kreiskulturhaus des Zirkuswinterquartierorts Treuprinzen. Der erste Akt zeigt das Zimmer der Mehrheit, ausgeschilderter Raum, in dessen Mitte ein Fass, darein auf Befehl der Mehrheit ausgeschilderte Person, wie die folgenden allegorischen Figuren auch, die Liebe: ein Herz, die Geschicklichkeit: eine Hand, die Narrheit: ein Kopfbauch. Licht aus, Licht an, das erhellte, ein Ei ward aus den Zutaten geformt, eine Sonne (Stanniol) musste es bebrüten auf einem Strohhaufen, bis ein kleiner Harlekin auskroch . Sonne ab. Zweiter Akt: Herein eine Zauberin, die den kleinen Harlekin zerschnitt und in einen Kessel warf. Qualm. Dann wurden die Knitter herausgenommen und mit einem weissen Tuch bedeckt. Licht aus. Licht an, und zu sehen war ein lebendiger Harlekin, wie er unter dem Tuche hervorkrauchte. Als er zum Stehen gekommen war, schickte die Zauberin ihn auf Reisen, wobei zusätzlich Schrift auf dem leeren, aber schmutzigen Prospekt geworfen wurde, folgenden Wortlauts: Harlekin muss nach Venedig, lernen, was er nicht kann. Das Publikum, Mitglieder einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, die sich vom zuständigen Theater der Kreisstadt mit neuen Schwänken, alten Operetten und anderen regelmässigen Stücken regelmässig bespielen liess, kam sich verklapst vor vom Besten oder - gehörten Italiener gar nicht so richtig dazu? - Die Verstörung des Publikums erleuchtete mich dergestalt, dass ich in meiner zweiten Nummer weder einen Harlekin noch eine Kolumbine darstellte, sondern eine Werktätige. Die Frau setzte sich, erster Akt, auseinander, indem sie sich zerschnitt, und , zweiter Akt, zusammen, natürlich nicht zum Verklapsen, zum Gebrauchen, als Schraube, neue. Nummern mit alten Schrauben duldet kein Zirkus oder sonst. Erstveröffentlichung: "Tiere, Menschen, Sensationen", Burgstedt, Sachsen. Titel: "Eine Schraube - wie stolz das klingt."
Nummer 3 verdankt ihre Entstehung einem Impuls, einem Philosophen und einem Zauberkünstler. Der Impuls ging täglich von den Massenmedien aus. Die einheimische Medienlandschaft verschmäht für sich, was sie von der Kunst verlangt: Widerspiegelung. Mehr noch: sie verändert durch Nicht-Widerspiegelung, durch Weg-Sehen der Realität. Was an ihr zwar nichts ändert, wohl aber an der Sprachregelung über sie. Mich störte das, jeden Morgen, wenn ich meine abonnierte Zeitung aufschlug, unzählige verdorbene Tage. Bis die Erinnerung an Kants Versuch, den Begriff der negativen Grösse in die Weltweisheit einzuführen, zündete. Ich liess mir von meinem Zauberkünstlerkollegen Ambrosius den gewöhnlichen Trick "Kaninchen aus dem Hut" erklären und modelte ihn zum aussergewöhnlichen Trick, indem ich einfach das Vorzeichen änderte. Viele mittelmässigen Erfindungen sind barock; alle genialen Erfindungen sind einfach. "Kaninchen in den Hut", eine geniale Nummer. Folglich wurde sie zunächst übersehen, dann verboten, dann exportiert. Erstveröffentlichung: Estrade der Lebensfreude, Demin, Mecklenburg.
[Bandende, Aufzeichnungslücke]
... zu Grund setzenden Ausgaben, aber durchaus gearbeitet. Der tingelt, ist Verrisse gewillt. Das Schlagwort "Protheuskunst" traf die Tatphilosophie nicht verletzend, sondern inspirierend zu neuer Qualität. Es half die Spielphase zu beenden und das Testament zu eröffnen, leibhaftig.
Affektauslöser: Tschernobyl
Arbeitsanreger: das Alte Testament, Lao Tse, Marx und die Kommunalwohnungsverwaltung Berlin-[Karlsrost?].
Ich stand auf der Liste dieser Kommunalwohnungsverwaltung, seit Jahren. Warteliste für Zweiraumwohnungsuchende. Plötzlich war ich dran und musste Personalpapiere für die Ausfertigung der Zuweisungspapiere vorlegen. "Und die Papiere des Ehemanns?" fragte die Sachbearbeiterin. "Fehlen", gestand ich. "Nachreichen" , sagte die Sachbearbeiterin. "Woher nehmen und nicht mausen?" fragte ich.
KWV-Angestellte schloss kurz: eine sitzengelassene Frau. Wartelisten, für die Ewigkeit angelegt, aber viele Ehen halten nicht so lange.
Frage: "Seit wann geschieden?"
Antwort: "Nie verheiratet gewesen."
Frage: "Also, Lebensgemeinschaft?"
Antwort: "Auch nicht. Jedenfalls nicht in einer Wohnung. Mit einem Mann in einer Wohnung? Nie."
Frage: "Und da wagen Sie eine Wohnung für zwei Personen zu beantragen?"
Antwort: "Ja. Für die Frau in mir und für den Mann in mir."
Die Sachbearbeiterin verbot sich faule Witze und Irreführung der Behörden. Da ich mich jedoch partout nicht mit einer Einraumwohnung abfinden lassen wollte und die Abfertigung der den Flur vor dem Amtszimmer füllenden Antragsteller ins Stocken geriet, bedrohlich: erst Klopfen an die Tür, dann Geschimpfe dahinter, dann zuwiderhandelnd der gedruckten Weisung "Eintritt nur nach Aufruf", schloss die Sachbearbeiterin meine Akte und warf sie ins Regal zurück mit der Bemerkung: "Wenn Se keenen Mann hoam, müssen se sich ämd en ausn Rippen schneiden." Erstveröffentlichung: Hotel "Feuille [?] de Grand‘Ecole", Paris.
Name: Leander.
Dokument 7a:
Gesellschaftliche Beurteilung des Unterhaltungskollektivs Klärewald-Ost [?]:
"Und können wir nur einstimmig die Frage stellen: Wer schmeisst denn noch so mit Lehm wie unsere verdienstvolle, stets einsatzbereite und politisch zuverlässige langjährige Mitarbeiterin Hero? Ihre Nummern: Meilensteine in der Geschichte unseres Unterhaltungskollektivs, sowie des internationalen Showgeschäfts. Ihr Patent: einsame Devisenspitze. Ihr neuer Begleiter Leander: reizend.
Dokument 7b:
Schreiben von Prof. Z.
Betrifft: Gesellschaftliche Beurteilung der Kandidatin H.K.
Eine entsprechend den Rechtsvorschriften anzufertigende Beurteilung über die wissenschaftliche und die gesellschaftliche Tätigkeit der Kandidatin H.K. und ihre Persönlichkeitsentwicklung (gemäss §2, Abs. e der Promotionsordnung) ist für eine nicht-gesellschaftsfähige Person selbstverständlich nicht ausstellbar. Zudem möchte ich nicht versäumen, die höheren Orts für mich eindeutig definierte Rechtslage nochmals anzumerken, welche mich befugt, die Befürwortung des Promotionsverfahrens, seine Durchführung, aber auch die Promotionsarbeit selbst und die Kandidatin sowieso, jederzeit offiziell als nicht-existent zu bezeichnen und etwaige nicht vernichtete Unterlagen über den Vorgang, sofern sie irgendwie an irgendeine Öffentlichkeit gelangen sollten, als Fälschung zu entlarven. Die Befugnis liegt mir schriftlich vor.
Ebenfalls schriftlich habe ich die Erlaubnis, die Promotion dieser H.K. im Bericht über die Erfüllung des Frauenförderungsplans und das Showpatent LXnnnnnnn im Bericht über die Erfüllung des immateriellen Exportplans (ImEx) positiv abzurechnen. Diese Vergünstigung hinsichtlich der Jahresendprämie werte ich als kleine Aufwandentschädigung für die grossen nervlichen und physischen Strapazen, die mir und dem Gutachter aufgebürdet waren.
Eine Kandidatin, die sich von ihrem Betreuer nicht betreuen liess, eine Doktorarbeit, die dem Doktorvater nicht in wirrem Entwurfsstadium mit der Bitte um Wegweisung gebracht wird, sondern er fix und fertig suchen muss, aufsuchen muss, und auch noch im k.A. (kapitalistischen Ausland), was ausser dem Reisekaderstatus vier Ausreisestempel nötig machte, sowie Fahrkarten (ich musste zwecks Besichtigung bis Hannover, ein Gutachter musste nach Mainz, zwei mussten sogar nach Köln) - weil dieser sogenannten Arbeit gänzlich fehlt, was eine Arbeit ausmacht (Papierform) Leander besteht aber nicht nur nicht aus Papieren, er hat auch keine. Hunde ohne Papiere nennt man Promenadenmischungen, und niemand käme auf die Idee, solche Zufallsprodukte auszustellen und damit einen Preis zu machen. Leander aber, nicht mal ein Zufalls- sondern ein Unfallsprodukt, soll einen Titel machen?
Die Kandidatin hat nie bestritten, dass sie mit dem unverhofften Resultat eines missglückten Selbstmordversuchs zu promovieren beabsichtigt. Und nun will sie die Not als Tugend verteidigen, um sie einführen zu können. Durch die Hintertür eines Promotionsverfahrens will sie sich eine Einfuhrgenehmigung oder sogar einen Pass erschleichen, für eine Laus, die sie uns in den Pelz setzen will. Eine schöne Laus aber, in unserem praktischen Pelz, könnte sich zu einem trojanischen Pferd auswachsen.
Dokument 8:
Belege über die Fremdsprachenkenntnisse in der russischen Sprache sowie einer weiteren lebenden Fremdsprache.
1. Russisch:
Sprachkundigenprüfung II e abgelegt, Datum, Unterschrift, Kenntnis [unverständlich: eigenSchul-Universitätgewisses]
2. Natürlich:
Sprachkundigkeit schriftlich nachgewiesen durch die Thesen. Eine Übersetzung aus dem Natürlichen ins Deutsche.
Bisher war ich nur Männern begegnet, die Hineinlesen erforderten, die ich imaginieren musste, um sie lieben zu können. Ver-Kennen, nicht er-kennen. Freilich wusste ich, dass Luther den Liebesakt in der Bibel mit dem Wort "erkennen" übersetzt hat. Aber ich dachte bisher nichts. An dieser Stelle wurde beim Verdolmetschen mal nicht dem Volk aufs Maul geschaut, sondern der Wohlanständigkeit nach dem Mund geredet mit einer Umschreibung, die gänzlich verhüllt. Leander zeigt mir, dass sie gänzlich enthüllt. Der Patriarch Luther schweigt zuweilen, und das Genie Luther tritt aus seiner Zeit und ruft zeitlose Wahrheit in taube Ohren.
Das heroische Testament Leander ist ein Mann zum Heraus-Lesen."
[Applaus]
Rusterholz: Stehen Sie noch für Fragen zur Verfügung?
Morgner: [Überlegt, zögert] Entweder man kommt vom Hundersten ins Tausendste, und es gibt überhaupt kein Ende. Also, ein Vorschlag zur Güte, natürlich, wenn ich wieder so weggehe, ist das vielleicht unanständig. Ich möchte also einen mittleren Weg finden, weder unanständig zu sein, noch dass wir morgen noch da sitzen. Wie wäre denn also, eine halbe Stunde? Also, ich setze mich mal hin, und Sie überlegen sich die Sache, und wer will kann gehen ...
Frage: Können Sie uns etwas über den Titel, "Cherubinische Wandersfrauen" sagen? Oder geht das schon zu sehr ins Geheimnis des Buches?
Morgner: Also, innerhalb des Textes ist doch das Kleist-Zitat.
Nachfrage: Also, Sie beziehen sich eher auf Kleist als auf Angelus Silesius?
Morgner: Angelus Silesius ist auch nicht übel. [Gelächter, und im Gelächter] Obschon das mir auch wieder fremd wäre. - Also, natürlich nicht dieses Bild, das Kleist gemacht hat, das trifft die Situation, dass ich ein poetisches Bild nehme, aber Angelus Silesius - das können wir hier nicht auseinander wickeln, das wäre zu weitläufig. Jedenfalls hatte ich in einer bestimmten Weise eher das Gefühl, dass der Mensch aus dem Stoff des Ganzen gemacht ist, Angelus Silesius - Geist und Materie irgendwie tief drinnen, etwas das man nicht abweisen muss, sollte, und [spricht sehr leise, unverständlich] ja, es gibt ein paar [unverständlich], die er ganz schnell geschrieben hat, da ist das drin. Sogar, sagt er, wenn ich nicht wär, gäbs keine Wörter, und in dem Zusammenhang würde auch kein Gott mehr sein. Also, er hat diese, das was - es gibt da gewisse Anklänge. Inzwischen hinterfragen ja die Köpfe von allen möglichen Wissenschaften ihre Wissenschaft, als ob sie vom Himmel gefallen wäre, warum machen wir das eigentlich? Warum denn bloss? Warum eigentlich Germanistik? Ich meine früher war das nicht so, aber heute? Sinn hats irgendwelchen nicht, und so ...
Frage: [dreht sich um die Problematik des Wiedergebens des Kleist-Zitats, ob es ihr Mühe gemacht habe, das aufzuschreiben].
Morgner: So einen Satz, den schreibt man mit allergrösster Hochachtung und Respekt hin, da steht man innerlich auf, um den hinzuschreiben. Das ist ne Ehre, diesen Satz hinzuschreiben und auch zu zitieren. Es gibt nicht so sehr viele, aber einige gute Sätze, die man zitieren sollte, weil ungeheuer viel Unsinn wiederholt wird, aber so gute Sätze weniger. Es liegt vielleicht daran, dass sie so gut sind, dass sie keiner merkt, wie den Wald ...
Rusterholz: Meine Damen und Herren, wenn Sie keine weiteren Fragen zu stellen haben, Frau Morgner wollte ursprünglich nicht diskutieren, nicht für Fragen zur Verfügung stehen. Ihr überwältigendes Interesse und die Zahl Ihres Erscheinens hat sie offenbar doch dazu gebracht, doch den Versuch zu machen, auch wenn sie begreiflicherweise in dieser Zahl nun doch einigermassen scheu sind. Wenn allenfalls im kleineren Kreise noch Interesse besteht, Fragen zu stellen, so wird sie sich dem sicher nicht verschliessen. Für den grösseren Kreis würde ich aber doch vorschlagen, Frau Morgner Gelegenheit zu geben, jetzt zum Essen und zum Trinken überzugehen, möchte ich Ihnen herzlich danken für Ihr Interesse und Sie nochmals um Applaus bitten für Frau Morgner.
[1] Morgner, Irmtraud:
Die Hexe im Landhaus. Gespräch in Solothurn. Mit einem Beitrag von Erica Pedretti. Hrsg.: Patrizia N. Franchini, Suzanne Kappeler, Silvio Temperli in Zusammenarbeit mit Franz Zeno Küttel. Zürich: Rauhreif Verlag, 1984.
[2] Morgner, Irmtraud:
Amanda. Ein Hexenroman. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand Verlag, 1983; Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1983.
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