Guten Tag!
Gestern durfte ich mit meinen Eltern den 80. Geburtstag meines Vaters feiern. Sie hatten “open house” und alle Hände voll zu tun, da ging ich ein wenig helfen, aber auch mitfeiern.
Am Mittag kamen Nachbarn zu Besuch. Der Mann musste sich vor ein paar Monaten einer riesigen Operation am offenen Herzen unterziehen und ist inzwischen wieder ganz gut drauf. Er meinte im Lauf des Gesprächs mal kurz und mit rotgeränderten, feuchten Augen, so etwas verändere einen bis ins Innerste. Seine Frau wehrte ab, auch ihre Augen waren tränennass: Nein, nein, er sei doch immer noch der Gleiche. Ihr Ton hatte etwas Flehendes. Aber ich ahnte, was er meinte und sagte ihm dies auch. Seine Gesichtszüge entspannten sich.
Heute muss ich den ganzen Morgen an die Frau denken. Sie kommt mir ganz einsam vor in dieser ganzen Situation und sehr allein gelassen mit ihren Ängsten.
Am Abend waren die zwei Schwestern und ein noch lebender Bruder meiner Mutter mit PartnerInnen eingeladen (mein Vater war Einzelkind, aber meine Mutter hatte vier Geschwister). Es dauerte nicht lange bis das Gespräch ums Sterben kreiste. Eine meiner Tanten erlitt Kinderlähmung als Kind und war seither gesundheitlich immer angeschlagen mit Asthma und anderen Leiden. Sie hat in den letzten zehn Jahren x Mal schon dem Tod ins Auge geblickt. Mein Vater hatte vor ein paar Jahren Prostata-Krebs und sich da bestimmt auch seine Gedanken gemacht, wie wir alle.
Es ergab sich ein gutes Gespräch, in dem vor allem wir Frauen uns einig wurden, dass wir wahrhaftig bleiben wollen, wenns dann mal so weit ist, und uns nichts vorlügen à la “Das kommt schon wieder gut”, oder “Du bist immer noch der/die Alte, auch wenn Du jetzt was ganz Schreckliches durchmachen musst”, sondern möglichst ehrlich und respektvoll wahrnehmen und annehmen, was ist.
Eine meiner Tanten bezog sich wiederholt auf ein Buch von Klara Obermüller zu diesem Thema, das sie tief beeindruckt hatte (s. weiter unten).
Dahinter steckt vielleicht auch die nun schon lange zurück liegende Erfahrung von der Krankheit und vom Sterben meines Grossvaters mütterlicherseits.
Er war ein massiv übergewichtiger Mann mit den entsprechenden gesundheitlichen Problemen (z.B. hatte er offene Beine). Vor allem aber war er ein hochintelligenter, fleissiger Mann, Neuem gegenüber immer sehr aufgeschlossen, der in seinem Dorf vieles angerissen hatte. In der Familie muss er ein patriarchaler Despot gewesen sein und ist, soviel ich weiss, mit seinen Kindern und Untergebenen grob umgegangen. Selber habe ich ihn als sein erstes Grosskind allerdings immer als liebevollen, lustigen Menschen erlebt.
Im Alter von ca. 70 Jahren erkrankte mein Grossvater an Pankreas-Krebs und starb nach wenigen Monaten. Ich war damals im Ausland und habe ihn nicht mehr gesehen, mir aber sagen lassen, er sei am Schluss nur noch Haut und Knochen gewesen, ein Schatten seiner selbst. Aber noch fast zuletzt habe er mit seiner Frau, meiner Grossmutter, Pläne geschmiedet für die nächste grosse Reise. Und niemand habe den Mut gehabt, ihm zu sagen, dass es keine solche gemeinsame Reise mehr geben werde. Über die verheerende Diagnose habe man ihn in Unwissen gelassen.
Ich bin wohl nicht allein mit dem Gedanken, dass man ihm und uns allen damals die Chance genommen hat, sich richtig voneinander zu verabschieden. Mit scheint, dieser Mangel schwingt noch immer mit in allem, was wir heute als Familie miteinander erleben.
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Buchhinweis: Klara Obermüller,
Weder Tag noch Stunde. Nachdenken über Sterben und Tod.Huber & Co, 180 S., 2. Auflage, 2006, gebunden, ISBN 978-3-7193-1445-3
Am 23.1.08 gefunden auf http://www.alphamusic.de/shop/home/artikeldetails/ID14340832.html :
KurzbeschreibungSterben in der Anonymität eines Großkrankenhauses, Einsamkeit in den schwersten Stunden des Lebens, hilflose Angehörige, überlastetes Pflegepersonal, der Tod an den Schläuchen – das ist für viele Menschen heute Realität am Ende ihres Daseins. Muss es aber nicht sein. Das Aufkommen von Palliativmedizin und die Professionalisierung der Sterbebegleitung haben in letzter Zeit für Umdenken gesorgt. Die Suche nach dem guten Tod, Ars moriendi, ist ein Thema, das die Menschen seit der Antike beschäftigt und bis heute große Beachtung verdient. Klara Obermüller hat in ihrem neuen Buch Erfahrungen mit Krankheit, Serben und Tod zu Papier gebracht, die allen, die in ihrer näheren oder ferneren Umgebung mit der Problematik konfrontiert sind, Denkanstöße und Anregungen zu geben vermögen. Ihre Texte machen Mut und schließen Hoffnung nicht aus. Fern jeglicher Schönfärberei und billiger Tröstungsversuche führen sie die Lesenden hin zu den letzten und wichtigen Fragen um Leben und Tod.
PortraitKlara Obermüller, geboren 1940 in St. Gallen, ist in Zürich aufgewachsen, wo sie auch die Schulen besuchte, deutsche und französische Literatur studierte und mit einer Arbeit über "Melancholie in der deutschen Lyrik des Barock" promovierte. Schon während des Studiums wandte sie sich dem Journalismus zu, arbeitete zunächst beim du, später bei der NZZ und schliesslich, nach Jahren freiberuflicher Tätigkeit, bei der Weltwoche. Von 1996 bis zu ihrer Pensionierung Ende November 2001 moderierte Klara Obermüller die Sendung "Sternstunde Philosophie" von SF DRS. Heute ist sie als freiberufliche Publizistin, als Moderatorin von Podiumsdiskussionen und als Referentin in der Erwachsenenbildung tätig.
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Am 23.1.08 gefunden auf http://www.seniorweb.ch/index.php?option=com_content&task=view&id=727&Itemid=222 :
Klara Obermüller, Weder Tag noch Stunde. Nachdenken über Sterben und TodRezension von Bernhard Schindler / bpo -- Freitag, 6. April 2007
Klara Obermüller hat im Huber Verlag Frauenfeld ihre früheren Artikel zu Sterben und Tod im Buch "Weder Tag noch Stunde" zusammengefasst. Entstanden ist ein anrührendes Dokument, das die Dinge beim Tod des geliebten Menschen beim Namen nennt und dennoch den Leser nicht ohne Hoffnung und Zuversicht lässt.
Sie stand in den Dreissigern, ihr Mann, der Zürcher Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann, war 52, als sich der Tod ohne grössere Ankündigung plötzlich meldete. D. sank zu Boden und konnte sich nicht mehr erheben. Die Diagnose war: Gehirntumor. Es folgte eine Phase der Verzweiflung und Hoffnung. D. wurde operiert und operiert. Und dann, als der Körper immer schwächer wurde, wollte er nicht mehr. Er wollte nur noch eines, zu Hause sterben.
Der letzte Dienst am geliebten PartnerKlara Obermüller schreibt: "Der Gedanke, jetzt wird es Zeit, jetzt muss er wieder ins Spital", kam ganz automatisch, ohne zu fragen: Kann man überhaupt noch etwas tun gegen die Krankheit? Hat die Einweisung ins Krankenhaus überhaupt noch einen Sinn? Die Gleichung Sterben = Krankenhaus ist in unserem Bewusstsein tief eingeschliffen. Sie hat zu tun mit unserer Angst vor dem Tod. (...) In dieser Situation haben mir zwei Menschen den Weg gewiesen: mein Mann selbst und der ihn behandelnde Professor der Universitätsklinik (...) Der Arzt schrieb mir einen Brief, in dem es hiess: "Ich wollte Herrn D. diese Woche in die Klinik aufnehmen, eigentlich um Sie etwas zu entlasten..."
Als ich dies las, fühlte ich mich sehr hilflos, im Stich gelassen von dem Mann, von dem ich vielleicht doch noch – ein Wunder erhofft hatte. Man hatte mir die Entscheidung übertragen. Da war der ausdrückliche Wille des Patienten, zu Hause zu bleiben und zu Hause zu sterben, und da war meinerseits das Gefühl, "lange hälst du das nicht mehr aus, allzu lange reichen deine Kräfte nicht mehr." (...) Da war das indirekt vom Arzt bestätigte Wissen, dass medizinisch kaum mehr etwas getan werden konnte, und da war gleichzeitig die Unfähigkeit, dem immer mehr sich beschleunigenden Fortschreiten der Krankheit tatenlos zuzuschauen.
Ich glaube, es war der Nebensatz "eigentlich um Sie etwas zu entlasten", der mich aufhorchen liess. EinSpitalaufenthalt, der letzte vielleicht und gegen seinen Willen – war es das, was ich wollte?
Klara Obermüller hätte der Versuchung gern nachgegeben. Doch der Arzt hatte ihr signalisiert: "Lassen Sie ihm seinen Willen". „Das wurde nicht mit Worten so ausgesprochen, aber ich habe es so verstanden. Nachdem D. gestorben war, zu Hause, neben mir im Bett, weiss ich auch, dass es richtig war.“
Schuldgefühle von KrankenDiggelmann hat in dem Jahr, das ihm nach der Tumor-Diagnose noch blieb, seinen Nachlass geregelt, seinen letzten Willen kundgetan, seinen Betrieb geordnet. Er hat sich ein Diktiergerät geben lassen und hat tagebuchartig den tödlichen Verlauf seiner Krankheit beschrieben. Klara Obermüller erlebte auch, wie sich D. plötzlich schuldig fühlte, „dass er mir das – seine Krankheit – angetan hatte. Er sagte viel später einmal:
Dass er zum Zeitpunkt unserer Heirat noch keine Ahnung von der Krankheit hatte, änderte nichts an seinen Gefühlen.“
Trauerbewältigung muss jeder selber leisten
Aufgrund der noch zu Lebzeiten Diggelmanns erschienenen Notizen (W.M. Diggelmann, „Schatten, Tagebuch einer Krankheit, 1979“) wurde Klara Obermüller von ihrem Verlag gefragt, ob sie nicht ihre Sicht zu diesem Tagebuch schreiben wolle. Dieser und andere Artikel sind die Grundlage dieses Buches, das seltsam stark berührt und jedem Menschen, der je einen geliebten Nächsten verloren hat, aus der Seele spricht. In diesem Buch versucht die Autorin, mit ihrer Trauer fertig zu werden. Natürlich wird es ihr nicht gelingen, den Schmerz anderer, die einen Liebsten verloren haben, zu lindern. Aber dieses ohne Schnörkel und Sentimentalitäten geschriebene Buch mit der Ehrlichkeit einer Klara Obermüller und ihrer Offenheit macht Mut, sich mit Sterben und Tod überhaupt auseinander zu setzen.
Zu Karfreitag 2007
Ich habe den Wunsch geäussert, dass diese Würdigung von „Weder Tag noch Stunde“ im Seniorweb am Karfreitag erscheint. Für reformierte Christen ist dieser Tag der höchste Feiertag der Opferung und Erlösung aller Menschen durch Jesus; für Katholiken ist die Auferstehung Christi an Ostern wichtiger als Karfreitag: „Christus ist wahrhaft auferstanden!“.
Wenn wir zuschauen müssen, wie ein Mensch stirbt und wissen, dass wir ihm wenigstens in diesem Leben nie wieder begegnen können, dann empfinden wir hundselende Trauer. Dennoch reift Hoffnung, denn Sterben und Tod gehören zum Leben wie die Geburt, die Kindheit, die erste Liebe und das Altern. Klara Obermüllers Buch über das Sterben gibt Kraft und Zuversicht. Und hat in mir den Wunsch geweckt, wieder einmal in den bekannten, aber längst im Bücherschaft verstaubenden Diggelmann-Romanen zu stöbern und zu lesen, und auch, mich mit Klara Obermüllers Berichten über Alzheimer („Es schneit in meinem Kopf“) oder Erzählungen aus dem Rentnerdasein („Ruhestand? Nein danke“) zu befassen.
Klara Obermüller, Weder Tag noch Stunde, Nachdenken über Sterben und Tod, Huber Verlag 2006, ISBN 978-3-7193-1445-3
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